Ich hatte lange Angst vor diesem Schritt, Verantwortung für
mich und mein Leben zu übernehmen. Es ist beängstigend, verstörend, wenn der
Körper eine Veränderung durchläuft, für die der Geist noch nicht bereit ist.
Als ich Kind war, war alles gut. Zumindest will ich es mir so einreden. Doch
langsam beginnt dieses Bild zu zerfallen.
Die Streitereien der Eltern, die Hänseleien und das Mobbing
in der Schule, immer wieder Freunde zu verlieren, weil man nicht gut genug
angepasst und nicht ‚normal’ genug ist. All das ist auch meine Kindheit. Und an
diesen Punkt, diesen Punkt der Hilflosigkeit, der Enttäuschung, der
Selbstzweifel, an diesen Punkt will ich nie wieder gelangen. Ich will
abschließen mit diesem Kapitel des Schmerzes, der Zeit der Dunkelheit.
Ich habe mich oft gefragt, weshalb ich nicht selten wie ein
Kind behandelt werde. Weshalb man mir nichts zutraut, diesem verschüchterten,
kleinen Ding. Der Grund ist einfach wie banal: ich sehe aus wie ein Kind. Ein
dünnes, durchscheinendes Etwas, das sich am liebsten in der Ecke zusammenkauern
würde, aus Angst, von jemandem beachtet und wahrgenommen zu werden.
Gleichzeitig sehne ich mich mehr denn je nach eben jener Beachtung, bin
verletzt, wenn man mich übersieht, und kauere mich aus Frustration und Verzweiflung
darüber in der Ecke zusammen. Doch bin ich schon lang nicht mehr dieses Kind.
Ich habe viel gesehen und erlebt, möglicherweise zu viel, habe mich immer
wieder nach diesem Kindsein zurückgesehnt, diese Zeit, in der man keine
Verantwortung für sein Leben übernehmen muss, in der andere, die ‚großen’
Erwachsenen alle Angelegenheiten für einen regeln, in denen man nur still und
brav dazusitzen hat und artig seine Hausaufgaben macht.
Doch um in diese Zeit zurückzukehren, musste ich das
Bühnenbild und die Darsteller anpassen, musste die Uhrzeiger auf die Position
drehen, bei der ich wieder von null anfangen und mein Leben neu beginnen
könnte. In dieser Idee, dieser Ideologie, gibt es einen entscheidenden Fehler:
die Zeit lässt sich nicht manipulieren. Die Tage, Monate, Jahre, die ich darauf
verwendete, in die Vergangenheit zu reisen und alles zu ändern, liefen in der
Realität weiter. In meinem Kopf war ich wieder Kind, oder befand mich auf
bestem Weg dahin, während sich mein Äußeres und mein Leben der Zukunft
entgegenwendete. Doch nicht mein gesamtes Äußeres – ich hielt meinen Körper
soweit unter Kontrolle, dass er sich nicht signifikant weiterentwickelte. Es
gab etwas, das ich kontrollieren konnte, während mir alles andere zu entgleiten
drohte, und ich griff in meiner Verzweiflung danach. Jedoch ist das Problem an
der ganzen Sache, dass man sich nicht fortläufig zurückentwickeln kann. Denn
der Punkt, an dem man noch einmal von vorn beginnen kann, der existiert nicht.
Nicht in diesem Leben. Und das ist es, was ich will: ich will leben! Ich will
nicht dieses Scheinleben aufrecht erhalten müssen, dieses große Theaterstück,
das ich bis zur letzten Zeile einstudiert und perfektioniert habe. Doch um den
Vorhang entgültig zu schließen, um einem neuen Stück Platz zu machen, muss ein
entscheidender Schritt getan werden: ich muss Verantwortung für mich selbst
übernehmen, ich muss zu meinem Selbst stehen, von dem ich bisher wenn überhaupt
nur einen Bruchteil gesehen habe, nur um ihn gleich wieder sorgfältig in der
hintersten Schublade zu verstecken.
So schwer und beängstigend dieser Schritt im ersten Moment
aussieht und so gern ich ihm, wie so oft, aus dem Weg gehen würde, er muss
getan werden. Nein, ich, ich selbst muss ihn tun. Das kann niemand für mich
tun. Viele Menschen können mir dabei helfen, und ich schätze mich mehr als
glücklich, eben solche Menschen zu meinen Freunden zu zählen, doch den
eigentlichen Schritt an sich muss ich selbst wagen.
Darum schließe ich nun ab mit diesem Kapitel. Ich blättere
die letzte Seite um, nehme das Lesezeichen heraus, schließe das Buch und stelle
es zu den anderen, welche die Geschichte meines Lebens erzählen.
Nun ist Zeit für eine neue Geschichte, eine Geschichte des
Glücks, der Hoffnung, und vor allem: eine Geschichte der Zukunft.